Entlarvt: Die Schattenseiten des Privilegiertseins

In jedem Einführungskurs fürs Schreiben lernst du, dass jede Geschichte einen Konflikt braucht. Ohne Konflikt fehlt der Funke, der die Handlung vorantreibt. Kein Druck, der ...

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Von Niko Jens Schwann

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In jedem Einführungskurs fürs Schreiben lernst du, dass jede Geschichte einen Konflikt braucht. Ohne Konflikt fehlt der Funke, der die Handlung vorantreibt. Kein Druck, der die Figur an ihre Grenzen bringt. Nichts, das die Zuschauer grübeln lässt, wie es weitergeht. Kurz gesagt: Es gibt keinen Weg, das Erzählte interessant zu machen. Es gibt keine Story.

Über eine Sportliga zu berichten ist in vielerlei Hinsicht wie das Erzählen einer Geschichte. Aber statt eines Hauptcharakters gibt es so viele Protagonisten wie Teams – 30 in der NBA. Und in der Regel ist es nicht schwer, für jedes eine passende Erzählung zu finden.

Das Team, das sich jahrelang bis ganz nach oben gekämpft hat? Eine Geschichte von Ausdauer. Das Team, dessen Fenster sich schließt? Ein Aufstieg-und-Fall-Epos. Der Underdog, an den niemand geglaubt hat und der plötzlich überrascht? Ein Märchen von Wiedergutmachung.

Sogar die Truppe, die am Tabellenende untergeht und Nacht für Nacht verliert, lässt sich in ein düsteres Drama packen. Es gibt fast keine Situation, die nicht irgendeinen spannenden Blick auf die aktuelle Verfassung eines Teams erlaubt. Fast. Denn in dieser Saison stehen wir vor einem altbekannten Problem: Was machst du, wenn der Protagonist zu mächtig ist?

Schon Homer gab Achill seine verwundbare Ferse, wie Siegel und Shuster Superman sein Kryptonit. Ohne diese Schwächen hätte es keinen Konflikt gegeben, keine Story. Ohne sie hätten sie Figuren erschaffen, die zu perfekt sind, um sich für sie zu interessieren. Ohne sie hätten sie die Oklahoma City Thunder erschaffen.

Gewinnen als (schädliche) Gewohnheit

Die reguläre Saison ist noch nicht mal zu einem Viertel vorbei, doch OKC steuert auf eine historische Serie zu. Heute früh wurden sie erst das zehnte Team überhaupt, das mit 17–1 oder besser in eine Spielzeit gestartet ist. Aber noch einschüchternder als ihre Siege ist die pure Dominanz dahinter.

Letztes Jahr stellten sie mit +12,7 das zweithöchste Net Rating der Ligageschichte auf. Dieses Jahr zertrümmern sie diesen Bestwert mit +16,9 und lassen die einst kaum vorstellbare Zahl beinahe gewöhnlich aussehen. Sie haben ihre letzten neun Partien allesamt zweistellig gewonnen und schon so früh entschieden, dass Shai Gilgeous-Alexander in sieben dieser Spiele kein einziges Mal im vierten Viertel auf dem Parkett stand.

Heute früh begruben sie die Blazers – das einzige Team, das ihnen in dieser Saison bisher eine Niederlage zufügen konnte – mit 122:95. Nach dem ersten Viertel führten sie bereits mit 21. Das ist eine fast beispiellose Machtdemonstration. So sehr, dass es paradoxerweise schwer wird, darüber zu reden. Denn „das Team, das sowieso alle vorne sah, hat locker gewonnen“ ist keine packende Story.

Und genau deshalb erhalten die Thunder nur minimale Aufmerksamkeit. Wir bei nbamaniacs sind da nicht unschuldig: Während dieser inzwischen zweieinhalb Wochen andauernden Siegesserie haben wir nur drei News-Meldungen veröffentlicht. Aber so läuft es nun mal, wenn ein kleines Medium aus zehn Spielen pro Abend jene auswählen muss, über die es berichtet; da fällt zwangsläufig etwas unter den Tisch.

Auch wenn du auf größere Medien schaust – jene, die den Ton angeben –, passiert Ähnliches. Einerseits verständlich. Andererseits wirkt es unfair, dass ihre Leistung kaum gewürdigt wird, nur weil sie Titelverteidiger sind und alle wussten, wie stark sie sein würden. Dieses Gefühl kennen Fans anderer Teams nur zu gut.

Der Fluch des Champions

Manche sagen vielleicht, das wahre Problem der Thunder sei nicht, dass sie zu gut sind, sondern dass sie aus einem kleinen Markt kommen. In einer der am dünnsten besiedelten Regionen der Liga schafft es kaum eine Schlagzeile aus Oklahoma auf die größten Seiten. Würden die Lakers nach einem Titel so in die neue Saison starten, wären sie nicht so weit hinten im Fokus. Da steckt etwas Wahres drin. Aber das Gegenbeispiel liegt nicht weit.

Für die Boston Celtics zog dieses Argument letztes Jahr nicht, als sie nach einem Titelgewinn ebenfalls als klarer Favorit galten – bis ihnen alles entglitt. Ihre Gesamtsiege und der Punktedurchschnitt kamen damals nie an die aktuelle Dominanz dieser Thunder heran, doch das Gefühl war ähnlich: Ein Team war so gut, dass es seinen Reiz verlor.

Deshalb sprachen alle nur darüber, wenn es mal verlor, weil dort die Spannung lag, nicht in den vorhersehbaren Siegen. Mit Oklahoma wäre es genauso, würden sie gelegentlich stolpern. Aber das passiert gerade nicht.

Darum braucht es Artikel wie diesen – damit sie nicht aus dem Blickfeld verschwinden. Auch ein „perfektes“ Team fegt nicht mal eben so durch 17 von 18 Spielen mit dieser Leichtigkeit, vor allem nicht als amtierender Champion mit einem riesigen Ziel auf dem Rücken. Erst recht nicht, wenn dein zweitbester Spieler fehlt und ständig andere Leute aussetzen. Manchmal sollte man sich in Erinnerung rufen, dass „vorhersehbar“ nicht gleichbedeutend mit „langweilig“ ist.

Vielleicht ist kein einzelner Sieg der Thunder für sich genommen überwältigend. Aber diese Serie von 18 Spielen ist es definitiv. Wenn das nicht so wirkt, dann nur, weil Daigneaults Truppe mit dem Luxusproblem eines scheinbar verhext guten Kaders zu kämpfen hat. Ein Problem, mit dem sich die anderen 29 Teams liebend gern irgendwann befassen würden.

(Cover photo: Alonzo Adams-Imagn Images)

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