Rennen um den nächsten Shams Charania startet

Es war 15:30 Uhr am 6. Februar in den ESPN-Studios in Connecticut. Ein paar lose Enden mussten noch geklärt werden, doch der Großteil der hektischsten ...

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Von Niko Jens Schwann

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Es war 15:30 Uhr am 6. Februar in den ESPN-Studios in Connecticut. Ein paar lose Enden mussten noch geklärt werden, doch der Großteil der hektischsten Winter-Trade-Deadline seit Langem war bereits erzählt. Erschöpft nahm sich Shams Charania einen Moment, um sich mit den Ellbogen auf der Rückenlehne eines Stuhls im Disney-Studio abzustützen, wo er gleich die soeben vermeldeten Trades weiter ausführen würde. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sein Handy in den vergangenen 24 Stunden 20 Stunden Bildschirmzeit an.

Die Zahl klingt vielleicht schockierend oder gar ungesund. Dennoch ist das beim aktuellen König der scoops nichts Ungewöhnliches. Im Oktober 2023 gab Charania ein Interview mit dem Magazin Intelligence, in dem er zugab, im Schnitt 18 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm zu verbringen. „Im Urlaub sinkt es auf 14, 13 oder 12. Das betrachte ich als Erfolg“, sagte er damals. Damals war er noch der Gossip-Prinz der NBA, während Woj unangefochtener Monarch blieb.

bild setzt massst abe

In diesem Zusammenhang erinnert man sich an das Foto, das ESPN in seinen Social-Media-Kanälen postete, eine klare Anspielung auf Jimmy Butlers Geste während der Finals 2020. Der Vergleich wirkt paradox, denn das Foto des damaligen Miami-Heat-Stars stand für den kompromisslosen Kampf gegen das Schicksal – ein „Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung“-Moment nach über 47 Minuten Volldampf gegen ein klar überlegenes Team, das dann doch im nächsten Spiel die Serie und den Titel eintütete. Charania hingegen trat gegen niemanden an. 

Betrachtet man den Job eines Reporters ganz nüchtern, wirkt er manchmal absurd. Endlose Arbeitstage am Handy, ein angeblich achtstelliger Verdienst pro Jahr dafür, eine Meldung zehn Minuten (oder drei, oder 30) vor dem offiziellen Statement zu bringen. Nichts steht besser für die Besessenheit mit dem Faktor Zeit. Natürlich ist das nicht der einzige Grund, warum Shams so gut bezahlt wird, aber sein Prestige rührt genau daher – jenes Prestige, das einst Adrian Wojnarowski aufbaute. Shams steht ganz oben, weil er als inoffizieller Sprecher der Liga fungiert. Wenn jemand sorgfältig gefilterte Informationen platzieren will, geht er zum Mann, der durch das Vertrauen aller eine Macht erhielt, die die NBA und ihre Strippenzieher ihm freiwillig schenkten. 

Kurios ist, dass die NBA darüber nicht wirklich begeistert ist. Der Zweikampf zwischen Charania und Wojnarowski wurde längst zu einer eigenen Show, und der fehlende Wettbewerb ruft Misstrauen hervor. Auf dem Papier wirkte der Wechsel des Star-Reporters von ESPN zunächst harmlos. Aber es gibt Feinheiten. 

Adrian Wojnarowski ist wie die meisten bei ESPN bei CAA unter Vertrag, der wichtigsten Agentur in der NBA. Shams wiederum steht bei Klutch Sports, der direkten Konkurrenz, die von LeBron James’ engem Freund Rich Paul geführt wird. Dadurch hat die Liga – die diese Figuren als öffentliche Sprachrohre nutzt, um Meinungen zu formen – in manchen Interessen an Reichweite eingebüßt. Der Informationsfluss ist zwar derselbe, liegt aber nicht mehr bei mehreren, als ultimative Wahrheitsquelle verehrten Personen, wie noch zu Zeiten, als Woj und Shams (wenn auch ungleich) große Exklusivmeldungen aufteilten. Gerüchte haben viele Väter, doch heute stammen die großen Knaller aus einem Ein-Eltern-Haushalt.

Man merkt das an der aktuellen Gruppe von Reportern, die den Platz füllen wollen, den Wojnarowski letzten September hinterließ, in der Hoffnung, der „neue Shams“ zu werden. Schon immer gab es eine Riege von Insidern unter den Top-Hunden: Marc Stein, Brian Windhorst, David Aldridge und ein paar fragwürdigere Namen wie Sam Amick. Sie alle haben echte Kontakte und echtes Insider-Wissen, aber keiner wollte sich voll auf scoops stürzen – wohl auch, weil die alte Garde diesen Weg nie so gelernt hat. 

Die Jünger der Woj Bombs

Eine ganz neue Generation junger (und nicht mehr ganz so junger) Journalistinnen und Journalisten ist unter Woj aufgewachsen und fand genau diesen Bereich am spannendsten. Diese Schule – erst Quelle von News sein wollen, dann Reporter – bringt bereits viele Anwärter mit Methoden von seriös bis zweifelhaft hervor. 

Unter diesen Jüngern ragt einer durch seinen sichtbaren Ehrgeiz heraus, dessen Netzwerk und Riecher für Schlagzeilen aber noch hinterherhinken. Schon in seiner X-Biografie steht „turn on notifications, highly recommended“, was deutlich macht, dass er als Breaking-News-Quelle wahrgenommen werden will. Evan Sidery begann seine (ernsthafte) Berichterstattung über die NBA bei Bright Side of the Sun, dem Phoenix-Suns-Ableger von SB Nation. Der 28-Jährige beendete zwischen 2016 und 2017 sein Studium an der Arizona State. Seitdem schrieb er hauptsächlich für BasketballNews (2021–2023), Swarm & Sting (2024) und Forbes (seit 2019) als NBA-Reporter. 

Dennoch findet man auf X kaum Verweise auf seine Arbeitgeber. Größtenteils nutzt er Forbes als Prestige-Label. Sein Alltag besteht aber vor allem darin, Infos anderer zu übernehmen und als eigene auszugeben oder seine Ansichten ohne jede Quelle als News oder Gerüchte zu verkaufen. Letzten Dezember hatte PHNX Sports-Reporter Gerald Bourguet genug davon und ging auf ihn los, weil Sidery berichtete, Devin Booker habe nicht trainiert und würde vermutlich das Christmas-Day-Spiel gegen die Denver Nuggets verpassen. 

„Mann, du musst damit aufhören. Ich habe dich heute nicht beim Suns-Training gesehen. Du hast die Posts von Duane [Rankin] und mir über [Devin Booker] gesehen und sie als deinen eigenen Bericht ausgegeben, ohne uns zu nennen. Das machst du die ganze Zeit. Wenn es nicht deine Infos sind, hör auf, sie einfach als deine zu verkaufen, nur um dir eine Followerschaft aufzubauen.

Frohe Weihnachten“

Immerhin gibt es eine Quelle, die er häufig zitiert: Shams Charania, den er offenbar als Vorbild sieht. Aber so fragwürdig Charanias eigener Aufstieg bei ESPN gewesen sein mag: Man kann ihm nicht absprechen, dass er sich diese Rolle erarbeitet hat – von kleinen Meldungen rund um die Chicago Bulls über die Verpflichtung durch Woj bei Yahoo Sports bis hin zur ständigen Einsatzbereitschaft für den nächsten heißen Tipp. Sidery versucht es genau andersherum: Erst als zentrale Anlaufstelle fest etablieren, dann von oben herab sprechen können. 

Er ist nur das offensichtlichste Beispiel für diesen Trend. Hunderte Autorinnen und Autoren in den USA gründen ihre Artikel oder Social-Media-Profile auf Gerüchten, die sie online finden, ohne sie zu überprüfen – und oft auch ohne jede Möglichkeit dazu.

Selbstgemachter Journalismus

Mit dem Aufkommen des Bloggings Mitte der 2000er und der späteren Explosion von Social Media und YouTube sahen viele Reporter große Medien erst mal als Fesseln und wollten sich lieber „selbst machen“. Jovan Buha, bis vor Kurzem Lakers-Reporter bei The Athletic, setzt inzwischen komplett auf seinen YouTube-Kanal. Auf Substack tummeln sich Ex-ESPN-Größen wie Tom Ziller (jetzt auf eigener Seite), Tom Haberstroh, Ethan Strauss, Henry Abbott, oder der Paradefall eines selfmade insider: Marc Stein. 

The Stein Line, seine Kolumne auf Substack, gilt als Bibel für NBA-Gerüchte, wegen ihrer Infos und der Qualität der Texte. Seit diesem Jahr publiziert dort auch Jake Fischer, früher bei Bleacher Report und Yahoo, der wohl aussichtsreichste Name der neuen Gerüchte-Generation. Durch ihre Kontakte beleuchten sie viele Hintergründe, sind aber nicht in der Position, die endgültigen Meldungen zu bringen – und scheinen damit auch kein Problem zu haben. 

Mit Steins Berichterstattung ist fast jede Art von Reporter jenseits der Mainstream-Medien abgedeckt, und niemand scheint Shams’ Dominanz bei scoops herauszufordern. Denn in dieser zweiten Reihe gibt es nur einen, der infrage kommt: Chris Haynes. 

Ein Erbe auf halbem Weg

Haynes’ Karriere beinhaltet ein bisschen von allem, inklusive einer gewissen Unabhängigkeit von Beginn an. Er bloggte anfangs über die Portland Trail Blazers, unbezahlt und neben seinem Job im Sicherheitsdienst. Daraus entstand eine Stelle bei NBC Sports Northwest, wo er dann hauptberuflich über das Team berichtete. Seitdem zog es ihn durch ESPN, TNT, Yahoo, Bleacher Report, NBA TV… 

Seine Freundschaft mit Damian Lillard und das daraus wachsende Netzwerk machen ihn schließlich zu einer anerkannten Größe im NBA-Kosmos. Seit etwa einem Jahr ist Haynes weitgehend selbstständig aktiv, wirft scoops im „Woj Bombs“-Stil raus und baut parallel mit seinem YouTube-Kanal oder kurzen Clips auf X seine eigene Marke auf – gedreht in seinem Home-Office, noch erkennbar als Experimentierphase.

So wurde er zum größten Konkurrenten Charanias, auch wenn er es früher manchmal schaffte, sowohl Shams als auch Woj zuvorzukommen. Trotzdem reicht er nicht an die Bedrohung heran, die Shams einst für Woj darstellte. Als sein Kumpel Lillard ausgekauft wurde, war er nicht mal der Erste, der es meldete – Lillard selbst erfuhr es via Tweet eines ESPN-Insiders. Immerhin fügte Haynes dann einige Infos hinzu, etwa dass Giannis Antetokounmpo von dieser Aktion nicht begeistert war. 

All das verdeutlicht das Risiko, wenn Charania den NBA-Newsflow praktisch allein beherrscht. Über seinen Umgang mit gezielten Insider-Infos und fehlender Filterung hat man wenig gehört. Woj hatte früher oft feineres Gespür, wenn Agenten und Manager ihn mit Informationen fütterten. Shams stellt seinen Anspruch, Erster zu sein, über alles und veröffentlicht fast alles, was ihn dorthin bringt. Er ist Teil eines Systems, und der Mangel an echter Konkurrenz wirft Schatten auf die Berichterstattung. Die NBA und ihre Medienpartner scheinen es derzeit hinzunehmen, aber die Fans sehnen sich nach einem „neuen Shams“, den es bislang nicht gibt. 

(Titelbild von Yahoo Sports)

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